Chapeau, Marco Grüttner

Da war er wieder. Dieser Moment in einem Fußballspiel, in dem Spiele erfahrungsgemäß verlorengehen: Eben noch hatten sie 1:0 geführt, die Kämpfer und die Sprinter des SSV Jahn. Gegen den großen HSV. Doch dann ist dieses scheinbar sichere 1:0 des SSV Jahn zu einem 1:2-Rückstand geraten. Patsch, Patsch – in nur knapp drei Spielminuten.

Das hat gesessen wie schallende Ohrfeigen. Geschehen eine Viertelstunde vor dem Abpfiff. Und dargeboten wie der Abgesang einer nun unvermeidbaren Niederlage.

Gereifte Weine gelten als besonders edel und begehrt. Doch nicht jeder Wein hat das Potenzial, im Alter an Qualität zuzulegen. Ähnlich verhält es sich mit Berufsfußballern. Die einen bringen ihre Erfahrungen wertschöpfend im Spätstadium ihrer Karriere verlässlich auf das Spielfeld, die anderen eher nicht.

Der Anführer

Jahn Regensburg hat einen Teamkapitän, der die erste These verkörpert. Sie zu 100 Prozent lebt und sogar auch dann noch abzurufen in der Lage ist, wenn die Anderen am Boden liegen wie gegen den HSV. Mitte des Monats wird Marco Grüttner 34 Jahre alt. Die meisten in seinem Alter sind in dieser Schlussviertelstunde schon ausgetauscht.

Doch als diese Niederlage droht, ist der Mann mit der Trikotnummer 15 für seine Kollegen zur Stelle: Brüllt aus voller Kehle, weckt, rüttelt und richtet auf, umarmt und peitscht sie wieder entschlossen nach vorne. Es ist seine Mannschaft, mit der er nicht verlieren will. Niemals und nicht an diesem Tag.

Was ist Mentalität? Seit Marco Reus vor einer Woche bei diesem Reporter-Thema vor laufender Kamera die Nerven verlor, wird das Thema in diesen Fußballtagen häufig umfragt und diskutiert. Einer, der die Antwort dafür parat zu haben glaubt, ist Ralf Becker. Ausgerechnet Becker, denn bis Ende Mai war er noch Sportchef des HSV. Doch Becker ist auch ausgebildeter Fußball-Lehrer und kraft dieser Kompetenz war er einst auch Trainer von Marco Grüttner.

Und nun redet Becker mit Liga-Zwei.de in den höchsten Tönen über diese frühere Zusammenarbeit: „Marco ist das Paradebeispiel größtmöglicher Mentalität im Profifußball. Mit seinem starken Willen und seiner kraftvollen Präsenz gelingt es ihm, die Anderen aufzufangen und immer wieder neu mitzureißen.“

So geschehen im aktuellsten Fall: Der Jahn war wieder zum Leben erweckt, gewann am Ende wieder Luftduelle, Außenbahnsprints und Zweikämpfe. Und als Grüttner erst auf den Strafraum des HSV und dann auf das Tor zusteuerte, blieb der Kopf oben, der Blick klar und der Geist frisch: Ein perfekter Pass, ein gezielter Schuss und der Jubel groß. Fünf Minuten vor dem Abpfiff viele Freudentänze über den allemal gerechten Punktgewinn.

Grüttner glänzt als Torjäger & Vorbereiter

Wie so häufig gilt der Dank in Regensburg Marco Grüttnner. Seit dem Liga3-Aufstieg vor gut drei Jahren ist er dort aktiv. In 116 Spielen für den Jahn hat er 44 Treffer erzielt und bei 25 Toren so präzise serviert wie der Oberkellner eines Spitzenrestaurants die bestellten Speisen.

Als vor zwei Jahren der Aufstieg in die 2. Bundesliga glückte, haben sie ihn auch in Regensburg zu ihrem Kapitän gewählt. Verantwortung übernehmen und tragen zu dürfen, ist absolut nach seinem Geschmack. Zuvor hatte er drei Spielzeiten lang beim VfB Stuttgart die Zügel in der Hand. Wohl allein, weil die U23 die 3. Liga verlor, gab er den Job als Steuermann der Jungprofis selbstbestimmt auf.

Zum großen Glück für den Fußball und seiner Anhängerschaft in Regensburg. Die Signale des Marco Grüttner bleiben niemals unbemerkt. Die Kraft der Synergie aus der von Marco Grüttner vorgelebten, geballten Ladung Kampf- und Einsatzbereitschaft auf dem Spielfeld und der Brandung der Begeisterung des Publikums macht die Erfolge meist erst möglich.

Deshalb setzt der ehemalige Grüttner-Trainer Ralf Becker noch ein Sonderlob obendrauf: „Mit seiner Torgefahr bewegt sich Grüttner im Kreis der besten Stürmer der 2.Bundesliga. Was den Gesamteinfluss auf ein Team betrifft, so ist er sogar der Allerbeste.“

Auch ein Schädelbruch kann ihn nicht stoppen

Erstaunlich, wahrlich erstaunlich. Denn vor einigen Jahren hatte er einen Schädelbruch erlitten. Über ein halbes Jahr brauchte es zur Heilung und zum Comeback. Doch allen gesundheitlichen Risiken zum Trotz ist Grüttner stets bereit, in die Brennpunkte und Luftduelle hineinzuspringen, sich niemals zu schonen und diese Willensstärke immer wieder aufs Neue aufzubringen.

Vor zwei Jahren hatte die Elf des Jahn übrigens ebenfalls wieder einmal vehement auf ein spätes Remis hingearbeitet. Beim VfL Bochum lag sie 0:1 hinten, als der Schiedsrichter den Regensburgern in letzter Minute einen Eckball zusprach. Obwohl der ersehnte Ausgleichstreffer greifbar nahe war und dieser Eckball diesen Trend hätte belohnen können, stoppte Grüttner die Aktion. Er klärte den Schiedsrichter darüber auf, dass dieser Eckball nicht korrekt ist, weil er selbst den Ball zuletzt berührt hatte.

Der tadellose Sportsmann

Siegen um jeden Preis? Nein, siegen um jeden Preis will dieser große Kämpfer nun einmal nicht. Grüttner dafür freilich am Ende jener Spielzeit mit dem Fairnesspreis zu ehren, ist aus heutiger Sicht eine sehr gute Idee.

Denn allemal taugt sie gut als Mahnmal für die vielen Kicker, die aktuell mit ihrer Doppelmoral im Umgang mit dem leidigen Handspielkapitel zunehmend nerven. Dieselben, die heute lauthals klagen, wenn sie betroffen sind, schreien schon morgen gleich wieder „Hand“. Sie fordern einen Elfmeter, obwohl der Ball nur Brust, Hüfte oder Po des Gegners berührt hat. Sie wollen siegen und dies um jeden Preis eben.

Liga-Zwei.de hält es viel lieber mit Marco Grüttner. Und dies in jeder Hinsicht…

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